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MEDIZIN

Deutschlandfunk

Interview mit dem Palliativmediziner Matthias Thöns.

„Verletzung aller ethischen Prinzipien“

Der Palliativmediziner Matthias Thöns hat eine „sehr einseitige Ausrichtung auf die Intensivbehandlung“ von Patienten in der Coronakrise kritisiert. Er plädiert für eine bessere Aufklärung. Eine Intensivtherapie sei leidvoll und das Verhältnis zwischen Nutzen und Schaden stimme kaum.

Von Peter Sawicki

11.04.2020


Es gibt Fachleute, die diese Ausrichtung auf die Intensivbehandlung von Corona-Patienten kritisch sehen, und die vor ethischen Problemen warnen. Einer von ihnen ist Matthias Thöns, er ist Facharzt für Notfall- und Palliativmedizin in Witten in Nordrhein-Westfalen. Er hält die Ausrichtung der Politik auf die Intensivbehandlung von COVID-19-Erkrankten für einseitig.

Peter Sawicki: Herr Thöns, Sie sagen, dass eine ethische Katastrophe in Sicht ist. Was genau meinen Sie damit?

Matthias Thöns: Na ja, die Politik hat jetzt eine sehr einseitige Ausrichtung auf die Intensivbehandlung, auf das Kaufen neuer Beatmungsgeräte, auf Ausloben von Intensivbetten.

Wir müssen ja bedenken, dass es sich bei den schwer erkrankten COVID-19-Betroffenen, …, meistens um hochaltrige, vielfach erkrankte Menschen handelt, 40 Prozent von denen kommen schwerstpflegebedürftig aus Pflegeheimen, und in Italien sind von 2.003 Todesfällen nur drei Patienten ohne schwere Vorerkrankungen gewesen. Also es ist eine Gruppe, die üblicherweise und bislang immer mehr Palliativmedizin bekommen hat als Intensivmedizin, und jetzt wird so eine neue Erkrankung diagnostiziert und da macht man aus diesen ganzen Patienten Intensivpatienten.

 

„Es werden alle ethischen Prinzipien verletzt, die wir so kennen“

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Wir (können) tatsächlich nach einer chinesischen Studie nur drei Prozent der Betroffenen retten, 97 Prozent versterben trotz Maximaltherapie – so eine Intensivtherapie ist leidvoll, da stimmt ja schon das Verhältnis zwischen Nutzen und Schaden kaum.

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eine große Zahl von denen, die man rettet, nach zwei bis drei Wochen Beatmung, verbleiben schwerstbehindert. Und das sind Zustände, die lehnen die meisten älteren Menschen für sich ab. Also Eingriffe, die mit dem hohen Risiko einer bleibenden Schwerbehinderung einhergehen, die lehnen ältere Menschen eigentlich ab. Deshalb erreicht man eigentlich Therapieziele für diese Patienten nicht, das heißt, die Indikation ist schon fraglich.

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Wir wissen ja aus vielen Untersuchungen, dass die Beatmungszahlen in Deutschland explosionsartig zunehmen, und aus anderen Untersuchungen wissen wir, dass diese Willensermittlung nur bei vier Prozent der Beatmeten stattfindet.

In der Vergangenheit hat sich schon gezeigt, dass sich die hochpreisige Intensivmedizin in einen Bereich ausgedehnt hat, wo das die meisten Menschen für sich nicht wollen, und wir wissen aus Befragungen, dass Patientenverfügungen, die das relativ eindeutig ausschließen, oftmals nicht beachtet wurden.

Also von daher gibt es schon deutliche Hinweise, dass da Geld eine Rolle spielt, und wir wissen ja alle, dass Beatmungsmedizin extrem gut vergütet wird, da wird ein Tag zum Beispiel über 24 Stunden Beatmung teilweise mit über 20.000 Euro vergütet.

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Sawicki: Aber gleichzeitig werden ja auch viele andere Operationen aufgeschoben oder wurden aufgeschoben, die ja zum Teil auch eben die Krankenhäuser Geld kosten. Also gleicht sich das an der Stelle nicht wieder aus, wenn man jetzt mal auf den finanziellen Aspekt nur schaut?

Thöns: Auf den finanziellen Aspekt haben Sie natürlich recht, aber ethisch ist es natürlich eine Katastrophe, wenn man meint, jetzt Verluste durch die Einsparungen elektiver Operationen im Moment damit auszugleichen, dass man Menschen beatmet.

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Man muss natürlich gucken, dass die Leute nicht ersticken, man muss die natürlich vernünftig palliativmedizinisch behandeln. Atemnot zu lindern ist für einen Palliativmediziner, wie ich es bin, eben total simpel, das ist einfach möglich. Kein Mensch muss heute mehr ersticken. Also wir müssen die Menschen nicht beatmen, damit die nicht ersticken, sondern Palliativmedizin kann das sehr leidlos gestalten.

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Ja, man sollte die Patienten tatsächlich ehrlich aufklären, dass Intensivmedizin nur mit minimalen Rettungschancen bei hoher Leidenslast durch die Intensivmedizin einhergeht, und fragen, möchten Sie das so, möchten Sie isoliert von Ihrer Familie, getrennt, die nicht mehr sehen, am Lebensende beatmet auf einer Intensivstation liegen, oder möchten Sie vielleicht doch lieber mit dem Risiko, dass Sie das nicht überleben, zu Hause bleiben, gut leidensgelindert? Und ich sage Ihnen, die meisten alten Menschen werden diesen zweiten Weg gehen, wenn man denen das ehrlich sagt.

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Sawicki: Gibt es in einer Krise, in einer Pandemie einwandfreies ethisches Handeln?

Thöns: Ja, wir versuchen das ja zumindest. Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensivmedizin hat ja Rahmenbedingungen für diese schwierigen Triageentscheidungen auf den Intensivstationen veröffentlicht. Die sind ja ethisch schon ganz gut, muss man sagen, dass man eben nach Überlebenswahrscheinlichkeit dann einteilt.

Besser wäre natürlich, klar, wenn man von vornherein nur die Patienten mit dem Rettungsdienst in die Klinik bringt, die auch Intensivmedizin wollen. Und deshalb wäre die Entscheidung viel früher noch viel besser.

https://www.deutschlandfunk.de/palliativmediziner-zu-covid-19-behandlungen-sehr-falsche.694.de.html?dram:article_id=474488

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Frankfurter Allgemeine Zeitung

Interview mit dem Lungenfacharzt Thomas Voshaar.

„Es wird zu häufig intubiert und invasiv beatmet“

Beatmungsgeräte können in der Coronakrise Leben retten. Doch für die Lunge kann die invasive Behandlung gefährlich werden. Der Lungenfacharzt Thomas Voshaar über die Überlebenschancen von schwer erkrankten Covid-19-Patienten.

Von Rüdiger Soldt

06.04.2020


Thomas Voshaar ist Vorsitzender des Verbands der pneumologischen Kliniken und Chefarzt einer Lungenklinik und Gründer der Arbeitsgruppe Aerosolmedizin der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie

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Herr Voshaar, die Debatte über das Coronavirus beherrschen Virologen. Covid-19 geht aber häufig einher mit einer schweren beidseitigen viralen Lungenentzündung. Welche Kompetenz bringen die Lungenfachärzte in dieser Krise ein?

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Die eigentliche Erkrankung und ihre Behandlung ist die Domäne der Lungenärzte, nicht der Anästhesisten und Intensivmediziner. Pneumologen beschäftigen sich jeden Tag mit viralen und bakteriellen Lungenentzündungen. Es gibt kein Medikament gegen Covid-19, deshalb kommt es auf die klinische Erfahrung der Pneumologen an. Das ist von Öffentlichkeit und Politik noch unzureichend registriert worden.

Sie haben als Vorsitzender des Verbands der pneumologischen Kliniken und als Chefarzt einer Lungenklinik vor der leichtfertigen invasiven Beatmung von Covid-19-Patienten gewarnt. Warum?

Die Beatmung der Covid-19-Patienten, das frühe, vorschnelle Intubieren also, ist häufig medizinisch nicht gerechtfertigt. Vor der Corona-Krise gab es darüber unter den Kollegen keine Kontroverse. Jetzt führte die Ausbreitung der Pandemie in China sowie in Italien und Frankreich zu chaotischen Zuständen in den Kliniken. Die medizinischen Ressourcen waren begrenzt, und die Zahl der Covid-19-Patienten, die schnell versorgt werden mussten, war sehr groß. Chaotische Situationen sind in der Medizin immer schlecht. Für die längere Beobachtung eines Patienten und die Diskussion der Therapie ist im Chaos keine Zeit, deshalb ist häufig vorschnell intubiert, also invasiv beatmet worden. Wir Pneumologen hoffen, dass die Situation in Deutschland in den kommenden drei bis vier Wochen eine andere sein wird: Wir haben uns gut vorbereitet, wir wollen die Patienten geordnet aufnehmen und dann überlegt die Therapie einleiten.

Was heißt das für die Entscheidung, ob jemand beatmet wird oder nicht?

Für Patienten ist eine invasive Beatmung grundsätzlich schlecht. Selbst wenn das Beatmungsgerät optimal eingestellt und die Pflege perfekt ist, bringt die Behandlung viele Komplikationen mit sich. Die Lunge reagiert auf zwei Dinge empfindlich: Überdruck und eine zu hohe Sauerstoffkonzentration in der zugeführten Luft. Außerdem müssen Sie den Patienten bei einer Beatmung sedieren – Sie nehmen ihn aus der Welt. Er kann nicht mehr essen, trinken und selbständig atmen. Ich übernehme also die Totalkontrolle über den Organismus. Nur mit Überdruck kann ich Luft in die Lunge bekommen. Bei der Spontanatmung passiert das Gegenteil, die Luft gelangt durch Unterdruck in die Lunge. Das terminale Versagen der Lunge entsteht häufig durch zu hohen Druck und zu viel Sauerstoff. Es ist also immer besser, selbst zu atmen, deshalb schauen wir so kritisch auf die Beatmung.

Was heißt das für die klinische Therapie?

Von den beatmeten Covid-19-Patienten haben bislang leider nur zwischen 20 und 50 Prozent überlebt. Wenn das so ist, müssen wir fragen: Liegt das an der Schwere und dem Verlauf der Erkrankung an sich oder vielleicht doch an der bevorzugten Behandlungsmethode? Als wir die ersten Studien und Berichte aus China und Italien lasen, fragten wir uns sofort, warum dort so häufig intubiert wurde. Das widersprach unseren klinischen Erfahrungen mit viralen Lungenentzündungen.

Intensivmediziner halten dem entgegen, dass die Virusbelastung für Ärzte und das Pflegepersonal bei intubierten Covid-19-Patienten geringer sei.

Das ist unethisch. Wir können doch das Wohl des Patienten nicht dem Wohl des Personals unterordnen. Inhaltlich ist es auch unsinnig. Erfahrene Pneumologen und Intensivpfleger können die Aerosol-Belastung gering halten.

Welche Erfahrungen haben Sie in Ihrer Lungenfachklinik mit den ersten Covid-19-Patienten gemacht?

Wir haben Anfang April 29 Patienten behandelt und davon 19 schon entlassen, mittlere Liegezeit sieben Tage. In der Lungenklinik hier in Moers im Bethanien-Krankenhaus machen wir bei allen Patienten schon bei Aufnahme eine Computertomographie (CT) der Lunge. Alle hatten die charakteristischen beidseitigen Lungenentzündungen. Nur einen Patienten mussten wir intubieren, er kam mit schweren Grunderkrankungen. Wir haben zum Glück noch keinen Todesfall. Wir erheben umfangreiche Laborwerte und dokumentieren die Lungenentzündungen ausführlich mit Computertomographien. Typisch sind ein starker Mangel an Lymphozyten, schlechte Sauerstoffwerte und ein erhöhter Wert des Enzyms Laktat-Dehydrogenase. Das CT ist bei diesen schweren Fällen das entscheidende diagnostische Mittel, weit zuverlässiger als der Corona-Test. Wir mussten feststellen, dass es viele falsch-negative Tests gibt. Vielen Covid-19-Patienten konnten wir mit der Sauerstoffgabe durch die Nase und der nichtinvasiven Beatmung mit Atemmaske gut helfen. Natürlich müssen Atemfrequenz, Sauerstoffsättigung sowie Herz- und Kreislauffunktionen eng überwacht werden. Damit uns nicht vorgeworfen wird, dass unsere Patienten nur überlebt haben, weil sie schwach erkrankt gewesen seien, dokumentieren wir den Krankheitsverlauf.

Sollten sich nicht Pneumologen und Intensivmediziner auf ein einheitliches Behandlungsschema verständigen?

Ja, unbedingt. Es fehlt zwischen Intensivmedizinern und Pneumologen ein Konsens darüber. Ich habe es den Intensivmedizinern angeboten. Im Übrigen haben auch die Chinesen, als die Zahl der neu Erkrankten rückläufig war, weniger intubiert.

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Wie bewerten Sie die Vorbereitungen der Bundesregierung und der Landesregierung auf eine stark steigende Zahl von schwerkranken Covid-19-Patienten?

Die Strategie, für schwer erkrankte Covid-19-Patienten jedes Krankenhaus der Grundversorgung leer zu räumen, halte ich für falsch. Besser wäre es gewesen, für die Covid-19-Patienten spezialisierte Häuser als Behandlungszentren einzurichten. Erst in einem zweiten Schritt, falls sich die Pandemie weiter ausbreiten würde, hätte man einen Plan B ausrollen sollen, nach dem weitere Krankenhäuser frei geräumt worden wären. Jetzt haben wir das Problem, dass sich viele Patienten mit anderen schwerwiegenden Krankheiten nicht mehr in die Notaufnahme trauen.

Was können Sie aus der Behandlung schwer erkrankter Covid-19-Patienten in China, Italien und auch Frankreich darüber hinaus lernen?

Die meisten Menschen sind dort außerhalb der Krankenhäuser gestorben, in Altenheimen und zu Hause. Außerdem helfen Kollegen aus allen Fachbereichen aus – Gynäkologen, Neurologen, Hals-Nasen-Ohren-Ärzte. Die haben mit Lungenerkrankungen aber keine Erfahrung.

Rechnen Sie mit einem exponentiellen Anstieg schwer erkrankter Patienten?

Wir werden über einige Wochen täglich zahlreiche schwer erkrankte Covid-19-Patienten aufnehmen müssen, aber mit einer Katastrophe rechne ich nicht. Allerdings will ich die Situation nicht verharmlosen. Diese Krankheit ist tückisch: Mir ist keine andere Lungenerkrankung bekannt, bei der Komplikationen und der zeitliche Verlauf so schwer kalkulierbar und variantenreich sind. Auch die CT-Bilder der Lungen fallen äußerst unterschiedlich aus. Eine systematische Einordnung des Krankheitsverlaufs fällt uns noch schwer.

Glauben Sie, dass es zu einer Triage ex ante kommen könnte?

Wenn man genug Zeit, Personal und Intensivbetten hat, müssen wir alles tun, um Triagen zu vermeiden. Deshalb ist es so wichtig, dass wir gut vorbereitet sind. Wir müssen auch in Alten- und Pflegeheime gehen, damit die Menschen dort die Gelegenheit bekommen, eine Patientenverfügung zu machen, damit wir wissen, wenn diese älteren Menschen zu uns kommen, wie stark wir intervenieren sollen. Das wäre eine Maßnahme, um Chaos zu vermeiden. Die Alten- und Pflegeheime sind die Orte, wo sich das Virus verheerend schnell ausbreiten kann, deshalb sollten wir dort viel testen und die Menschen besser schützen.

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