MONITOR
Bericht: Golineh Atai, Lisa Seemann
02.04.2020
Im Eilverfahren beschloss der Gesetzgeber letzte Woche Änderungen des Infektionsschutzgesetzes. Damit stellte das Parlament eine
Zitat: „epidemische Lage von nationaler Tragweite“
fest. Also eine neue Form des Ausnahmezustands. Es überträgt weitreichende Befugnisse auf den Bundesgesundheitsminister. Er darf nun Rechtsverordnungen ohne Zustimmung des Bundesrats erlassen und Gesetze außer Kraft setzen. Damit werde die Gewaltenteilung weitgehend aufgehoben, warnen Kritiker. Und sehr viel Macht in die Hände eines Mannes gelegt.
Uwe Volkmann, Lehrstuhl für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie, Universität Frankfurt: „Zu dieser Regelung haben viele meiner verfassungsrechtlichen Kollegen Stellung genommen. Ich kenne niemanden, der diese Regelung für verfassungsmäßig hält. Es ist eine Regelung von einer Tragweite, wie sie bislang nur in der Weimarer Reichsverfassung gegeben war.“
Gerhart Baum (FDP), Bundesinnenminister a. D.: „Es sind praktisch zum Teil Blankovollmachten an die Regierung. Das ist nicht im Einklang mit Artikel 80 des Grundgesetzes, das ist verfassungswidrig. Natürlich muss die Regierung handeln, aber die parlamentarische Kontrolle ist unverzichtbar – jetzt wichtiger denn je. Und sie muss in kürzeren Abständen erfolgen, alle zwei Monate zwingend.“
Der vom Bundestag angepasste § 28 Infektionsschutzgesetz greift jetzt flächendeckend in den Schutzbereich elementarer Grundrechte ein. Unter anderem Artikel 2, die Freiheit der Person, die Versammlungsfreiheit, die Freizügigkeit, die Unverletzlichkeit der Wohnung. Ist dieser kollektive Grundrechtseingriff noch verhältnismäßig?
Uwe Volkmann, Lehrstuhl für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie, Universität Frankfurt: „Wir sind konfrontiert mit einer so außerordentlich großen Gefahr, dass sie unser Vorstellungsvermögen sprengt. Das rechtfertigt außergewöhnliche Maßnahmen. Aber es rechtfertigt nicht alle Maßnahmen, und rechtfertigt sie nicht unbegrenzt, und rechtfertigt sie auch nicht auf unbegrenzte Dauer. Von irgendeinem Zeitpunkt an werden wir uns fragen müssen, ob die Einschränkungen, denen wir uns alle noch ausgesetzt sehen, um der Erreichung dieses Zieles willen gerechtfertigt sind.“
Stattdessen wachsen die Begehrlichkeiten. Der Bundesgesundheitsminister würde am liebsten personalisierte Handydaten nutzen, um Kontaktpersonen von Infizierten zu finden – weit mehr als eine freiwillige App. Sein Vorstoß wurde zwar aus dem Infektionsschutzgesetz gestrichen, ist aber längst nicht vom Tisch.
Prof. Gérard Krause, Leiter Epidemiologie, Helmholtz-Zentrum für Infektionskrankheiten Braunschweig: „Ich habe die Sorge, dass wenn so ein System erst mal etabliert ist, dass dann die Versuchung sehr groß ist, das auf andere Indikationen auszuweiten. Das ist aus meiner Sicht absolut nicht verhältnismäßig. Und wir haben ja diese Bürgerrechte über lange Generationen erarbeitet und die brauchen wir auch, um in unserer Gesellschaft so zu funktionieren, wie wir jetzt leben. Und wegen einer relativ kurzzeitigen Epidemie, wie wir sie jetzt haben, diese aufzugeben und dann nicht mehr einfangen zu können, das halte ich für ein sehr großes Risiko.“
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